Vom Dilemma zum Tetralemma
Neue Perspektiven in Coaching und Supervision
Aus zwei mach‘ vier. Aus dem „Entweder – oder“ der Zwickmühle wird „das Eine“ und „das Andere“. Hinzu kommen „Beides“ und „Keines von Beidem“. Das ist im Tetralemma* nicht nur ein Gedankenspiel, sondern ein Erlebnis: in der Gruppe nehmen sogenannte Repräsentanten die vier Positionen ein. In Coaching oder Supervision mit einer Person bewegt sich diese von einer Position zur anderen – und dabei verändert sich häufig etwas.
Um auf das Beispiel zurückzukommen, anhand dessen ich ein Dilemma erläutert habe (https://www.richtung-ziel.de/in-der-zwickmuehle/): ich fühle mich nicht wohl. Nun kann ich entweder zu Hause bleiben oder dennoch zur Arbeit gehen. Mein Fernbleiben schadet meinen Kolleg*innen, Kund*innen oder Klient*innen. Mein Kommen schadet meiner Gesundheit.
Das Eine und das Andere
Im Tetralemma wird an dieser Stelle eine erste Unterscheidung vorgenommen: „das Eine“ ist die Position, der ich gerade etwas näher stehe. Die nehme ich nun ein. Was denke, fühle, spüre ich an dieser Stelle? Wie geht es mir, wenn ich hier stehe? Wenn ich nun die Position „das Andere“ einnehme und mich in gleicher Weise darauf einlasse, kann ich einen Vergleich ziehen. Welche Wirkungen hat es, wenn ich mit der Besetzung einer Position so tue, als sei die Entscheidung gefallen? Was für Hinweise erhalte ich dadurch?
Ist „das Eine“ weiterhin „eine Nasenlänge voraus ist“ oder ist hier eine Veränderung eingetreten?
Beides – die übersehene Verbindung
„Beides“, das ist die „übersehene Verbindung“. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. „Das Eine“ und „das Andere“ können kombiniert werden, nacheinander (am Vormittag ruhe ich mich noch aus, am Nachmittag gehe ich zur Arbeit) oder gleichzeitig (ich bleibe zu Hause, aber bin telefonisch erreichbar oder nehme an der Videokonferenz teil). Die eine Position kann in die andere integriert werden (ich gehe arbeiten, schone mich aber nach Möglichkeit – ich bleibe zu Hause, erledige aber das, was von dort aus machbar ist). Ich entwickle Kriterien für meine Entscheidung, in die beide Bedürfnisse einfließen: ich gehe, wenn Wichtiges und Dringendes zu erledigen ist. Ich bleibe dann zu Hause, wenn ich weiß, dass ein besonderer „Stresstag“ ansteht, der mich in meinem geschwächten Zustand zu überfordern droht.
Montag und Freitag gehen, Dienstag und Donnerstag bleiben. Der Mittwoch wird dann ausgelost. Verrückt? Ja, aber genau darum geht es auf dieser Position: neue Möglichkeiten zu entdecken. Manche davon mögen für mich, für die Organisation, in der ich arbeite und für die Art meiner Tätigkeit nicht in Frage kommen – und doch mag mir am Ende eine neue Idee weiterhelfen (oder mich zumindest der Blick auf die Optionen aufmuntern). Vielleicht ist es in diesem Fall etwas Drittes: ich entscheide mich für ein Sabbatjahr oder zumindest für eine Kur. Damit stärke ich meine Gesundheit und gerate in Zukunft seltener ins Dilemma…
Keines von Beidem – der übersehene Kontext
„Keines von Beidem“ verweist auf die Möglichkeit eines ganz anderen Weges (zu kündigen und ein Leben zu führen, das mich von diesem Problem befreit).
Sie bedeutet im Tetralemma jedoch noch etwas anderes: der „übersehene Kontext“, der die Entscheidung zwischen „dem Einen“ und „dem Anderen“ so schwer fallen lässt. Gemeint ist damit folgendes: Während ich bei „beides“ „inside the box“ bleibe, nehme ich nun eine Position „outside the box“ ein. Ich betrachte mich und mein Dilemma von außen. Wie ist es überhaupt entstanden? Dabei können neue „Themen hinter den Themen“ aufgeworfen werden: ich entdecke vielleicht, dass ich eine besondere Loyalität der Organisation und den Kolleg*innen gegenüber besitze (die von beiden möglicherweise auch eingefordert und deren Verletzung sanktioniert wird). Dass die Zufriedenheit von Kund*innen und Klient*innen wichtig ist, weil ich ihre Anerkennung brauche. Dass mein Selbstwert von der Qualität meiner Arbeit abhängt. Dass ich immer schon ein äußerst pflichtbewusster Mensch war. Und dennoch: Ohne Gesundheit ist alles nichts. Ich darf mich nicht kaputtmachen. Davon hätte schließlich niemand etwas. Auch nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben möchte ich noch ein paar gute, gesunde Jahre haben.
Welche Priorität will ich nun diesen Prämissen geben (https://www.richtung-ziel.de/in-der-zwickmuehle/, https://www.richtung-ziel.de/1172-2/)?
Erst inside, dann outside the box
Das Dilemma ist eine Lösung (die freilich zum Problem geworden ist: https://www.richtung-ziel.de/in-der-zwickmuehle/.) Wenn ich es so betrachte: wofür ist es gut, vorerst im Dilemma zu bleiben und eben keine Entscheidung zu treffen? Was würde ich verlieren, wenn ich eine Entscheidung träfe? Was gewinnen, wenn ich den Zwiespalt als Teil von mir akzeptierte?
Ich werfe einen Blick auf mein Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Ordne ich mich entweder dem einen oder dem anderen zu? Oder wende ich ein Modell an, dass absolute Gesundheit und absolute Krankheit als extreme Pole eines Kontinuums versteht, auf dem ich mich bewege? Dann sollte ich auf diese Bewegungen achten – und darauf, in welche Richtung sie gehen (https://leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/salutogenese/). Was für einen Unterschied macht diese Betrachtungsweise für mich?
Und auch dies nicht – und selbst das nicht!
Im Tetralemma gibt es dem Namen zum Trotz eine fünfte – nein, nicht „Position“, eine „Nichtposition“. „Und auch dies nicht – und selbst das nicht!“ ist ein „freies Element“, das der Musterunterbrechung dient. Der Repräsentant – oder im Einzel-Coaching und -Supervision Coachee bzw. Supervisandin – bewegt sich frei im Raum, den eigenen Impulsen folgend. Dabei kann ein „kreativer Sprung“ erfolgen, etwa: auf einmal mit Humor das Geschehen betrachten zu können. Überhaupt wird das Tetralemma als Anstoß zu einem spiralförmigen Entwicklungsprozess verstanden: nachdem vier Positionen und eine Nicht-Position durchlaufen wurden, kann wieder eine erste eingenommen werden – und das Spiel beginnt von Neuem.
Tetralemma – eine nützliche Intervention in Coaching und Supervision
*https://www.carl-auer.de/magazin/systemisches-lexikon/tetralemma
Die Tetralemmaaufstellung wurde entwickelt von Matthias Varga von Kibéd (https://www.syst.info/de/matthias-varga-von-kibed) und Insa Sparrer (https://www.syst.info/de/insa-sparrer). Sie beziehen sich auf ein Argumentationsschema im frühen indischen Rechtssystem. In einem Streitfall soll ein Richter folgende vier Möglichkeiten in Betracht ziehen: Der Angeklagte könnte im Recht sein (das Eine), der Ankläger könnte recht haben (das Andere), beide könnten recht haben, wenn sich etwa die Perspektiven ergänzen (Beides) oder keiner von beiden hat Recht, wenn sich z.B. herausstellt, dass es um eine andere, neue Sachlage geht (Keines von Beidem)
Insa Sparrer, Systemische Strukturaufstellungen. Theorie und Praxis, 3. überarb. Aufl. 2016 (2006) – https://www.carl-auer.de/systemische-strukturaufstellungen
Insa Sparrer, Wunder, Lösung und System. Lösungsfokussierte systemische Strukturaufstellungen für Therapie und Organisationsberatung, 7. überarb. Aufl. 2021 (2001) – https://www.carl-auer.de/wunder-losung-und-system
Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer, Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen für Querdenker – und solche, die es werden wollen, 11. überarb. Aufl. 2020 (2000) – https://www.carl-auer.de/ganz-im-gegenteil